Durch die letzte Wildnis Österreichs

Wirklich ursprüngliche Wälder gibt es in Österreich nur mehr ganz wenige. Der größte Urwaldrest steht im südwestlichen Niederösterreich. Wir haben ihn mit Reinhard Pekny im Sommer 2016 durchwandert.

In Österreichs letztem Urwald herrscht gleichzeitig Chaos und Stille: Alte Bäume, krumme Bäume, kaputte Bäume: gespalten, abgebrochen, tot oder sterbend, übersät mit verschiedenen Flechten, Moosen, Pilzen und Baumschwämmen. Bäume ragen auf Felsen empor, manche Wurzeln schlängeln wie Mangroven aus dem Boden. Und nirgendwo sonst sieht man so viele Holzgewächse, deren Stämme oberhalb des Bodens elegant geschwungen, in Fallrichtung verbogen sind, bevor sie gerade in die Höhe wachsen. Sichel- oder Säbelwuchs nennt man diese Form, die entsteht, wenn sich junge Bäume dem Gewicht des Schnees beugen müssen. Zwar sind diese drehwüchsigen Hölzer mechanisch viel belastbarer, aber schwer zu verarbeiten – Stämme wie diese wären für Sägewerke unbrauchbar. 

Wir befinden uns im letzten Urwaldstück im Alpenraum, das an die 400 Hektar groß ist, gelegen in einem über Jahrhunderte unzugänglichen Gebiet zwischen Dürrensteinkamm und Ötscher. Dass dieser Wald nie geschlägert wurde, war einem glücklichen Umstand zu verdanken: Die beiden Großgrundbesitzer – das Stift Admont und die Kartause Gaming - haben sich nie über den Grenzverlauf ihrer Besitztümer einigen können. Daher war die Holzbringung in einigen sehr unzugänglichen Gebieten zum Erliegen gekommen. 

In den letzten 12.000 Jahren ist in diesem Talkessel deshalb nie ein Baum durch menschliche Hand gefällt worden, erzählt uns der Forstwirt und frühere Wildtierforscher Wolfgang Pekny. Heute arbeitet er für die Schutzgebietsverwaltung, und schaut darauf, dass dieses Gebiet von jeglichen menschlichen Einflüssen verschont bleibt. 

Als der Bankier und Naturliebhaber Albert de Rothschild das Gebiet im Jahr 1875 erwarb, blieb es weiter unberührt. Denn Rothschild, so erzählt Pekny, sei ein Visionär gewesen. Inspiriert von der deutschen Romantik wollte er ein Stück Ursprünglichkeit bewahren.  Er ließ nicht zu, dass dieses von ihm so geliebte Waldstück gerodet wurde. 

Das Urwaldgebiet im Rothwald liegt fernab der Zivilisation. Wir sind viele Kilometer in den Wald gefahren, bis wir beim Eingang dieses Urwaldstückes angekommen sind Das urtümlich gebliebene Stück ist umgeben von ebenfalls sehr urwüchsigen Wäldern. Doch diese Waldstücke wurden schon einmal – vor etwa 250 Jahren -forstwirtschaftlichen genutzt, sprich gerodet. „Daher werden diese Wälder nie so sein, wie jene, die vom Menschen unberührt geblieben sind.

Vor einigen Jahrzehnten wurde das Gebiet zum Naturschutzgebiet, ab 1997 zum Wildnisgebiet erklärte, das sich an die strengen Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN anlehnt. Auf unserer Wanderung zeigt uns Ranger Reinhard Pekny, was mit dem Reservatschutz gewonnen wurde. Die Fichten, Tannen und Buchen werden hier nicht nach 80 Jahren zu Brettern verarbeitet. Sie haben eine Lebenserwartung von 600 Jahren, manche werden 1000 Jahre alt. Bei 400­jährigen tauchen Algen, Flechten und Insekten auf, die es sonst nicht gibt. An einer Buche findet man bis zu 30 Flechtenarten. Bis aus umgestürzten Bäumen wieder Erde wird, dauert es mehrere Jahrhunderte. In Urwäldern übernimmt das Totholz wichtige Funktionen als Wasserspeicher, Wurzelblatt für junge Bäume oder Unterschlupf für Salamander.

Bis ein toter Baum umfällt, dauert es 100, bis er dann zu Erde wird, weitere 300 Jahre. Das Totholz übernimmt vielfältige Aufgaben im Ökosystem. Fast alle jungen Fichten wurzeln auf toten Riesen, um im Frühjahr schnell aus dem Schnee zu kommen. Totholz saugt Wasser auf wie ein Schwamm und gibt es langsam wieder ab. Nährstoffe werden nicht weggeschwemmt. Fehlen die Wasserspeicher, hat das Folgen. "Hochwasserschutz beginnt im Wald, nicht mit Schutzbauten an der Donau", so Pekny. Die Urwaldökologie wird in vielen Projekten beforscht. So wurde hier auf einem Hektar Wald etwa die Vegetation vermessen und jeder Baum nummeriert. Die Störungsforschung untersucht etwa, wie der Wald auf Lücken durch Windschlag reagiert und wie er mit dem Borkenkäferbefall umgeht. 

Von der Urwaldökologie könne die Forstwirtschaft viel lernen, meint Pekny. In einem Naturwald haben neue Spezies, die aufgrund des Klimawandels einwandern, weniger Chancen. "Neophyten tun sich schwer, wenn jede Nische besetzt ist. Viel leichter haben sie es in von Menschen überprägten Naturräumen. Vielfalt sorgt für Stabilität im Ökosystem, was letzten Endes auch Voraussetzung für höheres Leben ist. Naturschutz sei deshalb vor allem für den Menschen selbst wichtig.“ 

Pekny hat noch viele Geschichten über Fauna und Flora auf Lager: Vom Frauenschuh, der größten heimischen Orchidee, die trotz strengem Schutz oft ausgegraben wird, was "nicht nur illegal, sondern auch sinnlos" ist, weil sie ihren Pilzsymbionten im Garten nicht finden wird. Er erzählte uns auch, wie früher missliebige Verwandte mittels dem äußerst giftigem Alpeneisenhut zu Tode kamen, und es daher seit jener Zeit auch "Erbschaftskraut" genannt wird.


weitere Infos zum Wildnisgebiet


Seit 2003 gehört Österreichs einziges "Strenges Naturreservat" zur Kategorie 1a der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN). Nichts darf man ihm entnehmen, nichts hinzufügen. Auch der Mensch muss draußen bleiben, ausgenommen Besucher, MitarbeiterInnen der Schutzverwaltung und WissenschafterInnen. 

Eingebettet ist der Urwald in das Wildnisgebiet Dürrenstein an der Grenze zur Steiermark. Das Gebiet ist ebenfalls geschützt, das Betreten streng geregelt: Es herrscht Wegpflicht, in vielen Teilen ist der Zutritt verboten. Das Wildnisgebiet dient als Pufferzone für den Primärwald und besteht aus Naturwäldern und solchen, die es noch werden sollen. Ältere Bestände im Osten konnten sich seit dem 17., 18. Jahrhundert halten, während aus den ehemaligen Fichtenmonokulturen der Forstwirtschaft wieder Wildnis werden soll.

Dass man wachsen lässt, was wächst, ist nur ein Kriterium für Wildnis. Hinzu kommen Abgeschiedenheit, Einsamkeit, das Fehlen von künstlichem Licht. Außerdem dient das Gebiet als Reservat für Organismen, die es außerhalb fast gar nicht mehr gibt.  Die Schutzgebietsverwaltung lässt nur wenige BesucherInnen in das Waldgebiet hinein. Wer Interesse hat, kann sich bei einer von über 150 Exkursionen pro Jahr anmelden.

Nähere Infos zu den Veranstaltungen und zum Gebiet selber unter www.wildnisgebiet.at

 

Text: Marco Vanek, Fotos: Marco Vanek, Jutta Seethaler, Anni Gratt

 

Eine Reportage von Jutta Seethaler über die Wanderungen im Wildnisgebiet wurde auf Freirad - dem Freien Radio Innsbruck gesendet. Zum Nachhören

 


Weitere Impressionen vom Wildnisgebiet



Fotos: Marco Vanek, Jutta Seethaler, Anni Gratt