Die Stadt ist wie ein altes Buch
"Jeder Ort steht für etwas. Venedig ist Wasser, Glas und Filmstars. Parma ist Schinken. Und Czernowitz ist ein Buch. Es hat viele Stimmen und wird in vielen Sprachen verfasst", schreibt der Schriftsteller Igor Pomerantsev. Wir besuchten die ehemalige Literaturhauptstadt des Habsburger Reiches.
Die Reise nach Czernowitz hatte mehr 24 Stunden gedauert. Mit dem Zug nach Krakau, Lemberg und dann noch das letzte Stück mit dem Bus quer durch die Bukowina. Kurz vor Mitternacht: Ankunft in der Herrengasse in Czernowitz. Unbedingt wollen einige von uns die Beine in einem ersten Spaziergang vertreten und kommen aus dem Staunen nicht heraus. Da ist man (gefühlt) um die Welt gereist, und findet hier die Häuser rechts und links mit ihren geschwungenen Erkern, klassizistischen Fensterfronten, zierlichen Jugendstilbalkonen so vertraut, als wäre man in der eigenen Kindheit- vielleicht eher noch der Kindheit der Großeltern - gelandet. Wir spazieren im warmen Licht der Straßenlaternen durch die Fußgängerzone hinunter. Vor hundert Jahren hätten wir hinter den Hausfassaden Deutsch wispern gehört.
Durch diese Straßen ging der junge Paul Celan zur Schule. Zwei Straßen weiter wuchs Rose Ausländer auf. Und man sieht ihn geradezu vor sich, den kleinen Erwin - später Aharon - Appelfeld an der Hand seiner Mutter: Ja, oft seien sie hier spazieren gegangen, hatte der 1932 hier geborene Schriftsteller erzählt, der mit der Mutter Deutsch, den Großeltern Jiddisch und in der Schule Rumänisch sprach. Flaniert seien sie, und irgendwann hätten sie sich in einem der Cafes niedergelassen und Käsekuchen gegessen.
In der Bukowina/Buchenland
Czernowitz, seit 1775 der "östlichste Vorposten" der K.u.k.-Monarchie, war bis zu ihrem Ende im Ersten Weltkrieg die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina, eine Stadt, in der Vielsprachigkeit ebenso blühte wie die jüdische Kultur und in der Deutsch Amtssprache war.
Möglich ist das immer noch: durch die alte Herrengasse flanieren, ihrem erstaunlichen Gefälle folgen bis hinunter auf den zentralen Ringplatz, von dem aus die Straßen in viele Richtungen abgehen, eine schöner als die andere.
Aber erst am nächsten Morgen nimmt man das Brüchige an der bewegend schönen Kulisse wahr. Häuserfassaden bröckeln, Fensterrahmen sind verzogen - zwischendurch stehen wieder perfekt renovierte Häuser. Und doch rührt die Stadt in dieser Gebrochenheit an. Es ist das unzerstörte, zauberhafte und zerbrechliche Gesicht einer längst versunkenen Zeit.
Auf dem Weg in die Universität läuft man immer wieder an alten Frauen vorbei, die am Straßenrand stehen: in Kittelschürzen und geblümten Kopftüchern, Eimer voller Zwetschken, Trauben, Eier und Äpfel vor sich; die kleinen harten Pfirsiche, die man für fünf Riftas, - ein paar Cent - kauft, sind unbeschreiblich gut. Mit Deutsch- und Englischkenntnissen ist nichts auszurichten, und langsam versteht man, dass dies schon fast 100 Jahre lang nicht mehr Czernowitz ist: seit 1991 ukrainisch, davor 46 Jahre sowjetisch, zwischen den Weltkriegen rumänisch.
Eigentlich ist Czernowitz-Cernivzi also sehr, sehr weit weg. Umso unglaublicher ist, dass heuer schon im neunten Jahr mit dem Lyrikfestival "Meridiane" eine Tradition der mehrsprachigen Lyrik wieder belebt wurde, die fast zu weit entfernt scheint, als dass man sie noch herholen könnte.
Es war in den 1970er Jahren der damalige Germanistik-Student Peter Rychlo, dem als Erstem in Cernivzi das Ausmaß dieses "Schatzes" aufging, als er mit der 90-jährigen Stefanie Nussbaum die letzte Dichterin der Stadt aufsuchte, die noch deutsche Gedichte schrieb, - und in ihrer Bibliothek die reiche deutschsprachige Literatur aus Czernowitz fand.
"Ich war erschüttert von der literarischen Tradition meiner Stadt, von der niemand hier eine Ahnung hatte", sagt der 68-jährige Rychlo, der heute Professor ist und sie alle als Erster ins Ukrainische übersetzt hat: Paul Celan, Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger und andere.
Peter Rychlo machte sich daran, den Schatz zu heben. Auf dem Boden der äußerst liberalen Kultur, die sich im 19. Jahrhundert in Czernowitz entwickelt hatte, war eine reiche vielsprachige, vor allem deutsche Literatur gediehen. Niemand hat das vielleicht so schön ausgedrückt wie Karl Emil Franzos, als er Ende des 19. Jahrhunderts eine Ankunft in seiner "lieben, jungen, unfertigen Stadt am Pruth" beschrieb: "Wer da einfährt, dem ist seltsam zu Mute, er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden sind. Und will er wissen, wer dies Wunder vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner, es ist die deutsche. Der deutsche Geist, dieser gütigste und mächtigste Zauberer unter der Sonne, er - und er allein - hat dies blühende Stücklein Europa hingestellt, mitten in die halbasiatische Kulturwüste."