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Weitra und das Obere Waldviertel

Landschaften des gewerbefleisses

Einst im blühenden Wirtschaftsraum - heute an der Peripherie Niederösterreichs. Auf Besuch in der Ackerbürgerstadt Weitra.

Weitra mit dem gut erhaltenen mittelalterlichen Stadtkern, wo einst in den Bürgerhäusern die Handwerksbetriebe angesiedelt waren
Weitra mit dem gut erhaltenen mittelalterlichen Stadtkern, wo einst in den Bürgerhäusern die Handwerksbetriebe angesiedelt waren

 

Auf einer unserer Winterreisen besuchten wir das kleine Städtchen Weitra im oberen Waldviertel. Die Sozialhistorikerin Andrea Komlosy hatte dort vor vielen Jahren ein Textilmuseum initiiert, das sich auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Region auseinandersetzt. In einem Beitrag einer Schriftenreihe des Landes Niederösterreich zur Denkmalpflege hat Komlosy die Industriekultur im Grenzgebiet zu Südböhmen und Oberösterreich beschrieben. Dieser Beitrag spiegelt ganz gut die Eindrücke wider, die wir auf unseren Streifzügen durch Stadt und umgebendes Land machten.

  

Aufgrund von Lage, Klima und Bodenverhältnissen der Grenzregionen kam im Waldviertel dem gewerblichen Einkommen neben der Landwirtschaft schon früh besondere Bedeutung zu. Kein Rohstoff, der hier unverarbeitet blieb, kein Bach, dessen Wasser nicht zahlreiche Mühlen, Sägen und Hammerwerke antrieb. Das breite Spektrum der Gewerbebetriebe hat inmitten der Wälder und Felder zwischen Ceské Bud˘ejovice/Budweis und Jihlava/Iglau, Haslach und Horn im Spätmittelalter eine regelrechte Industrie-Landschaft entstehen lassen – im Sinne von Gewerbefleiß: industria. 

 

Die Bürgerhäuser auf den Marktplätzen beherbergten die Produktionsstätten der zünftischen Handwerker. Abseits der Stadtplätze lagen jene Gewerbe, die Lärm und schlechte Gerüche erzeugten; ausschlaggebend für die Standortwahl war die Nähe zum Wasser, das für Gerber und Müller, Hammerschmiede und Tuchwalken Betriebs- und Antriebsmittel zugleich darstellte. So entstanden in den kleinen Ackerbürgerstädten in Flussnähe verdichtete mittelalterliche Gewerbegebiete mit Werkskanälen, Wehren, Wasserrädern und den für die jeweilige Branche charakteristischen Bauformen. In den Wäldern, deren Holzreichtum

aufgrund der Transportverhältnisse nur vor Ort nutzbar war, entstanden auf grundherrschaftliche Initiative Glashütten. 

 

Ein tiefgreifender Wandel der wirtschaftlichen Strukturen setzte im 18. Jahrhundert ein, als Waldviertel, Mühlviertel und Südböhmen in die Verlagsorganisation der – durch kaiserliche Privilegien von zünftischen Regeln befreiten – Textilmanufakturen einbezogen wurden. 

 

Während die Firmenzentralen im Raum von Wien, Linz oder St. Pölten angesiedelt waren, spielten die ländlichen Regionen die Rolle von verlängerten Werkbänken für das damals so arbeitsintensive Handspinnen und -weben. Wohn- und Arbeitsorte der ProduzentInnen

waren die Kleinhäuser, die außerhalb der Ortskerne und Stadtmauern für die Textilarbeiterfamilien errichtet wurden – etwa in Weitra, Groß-Siegharts oder Karlstein, deren Weberzeilen trotz mancher Umbauten bis heute deutlich erkennbar sind. 

 

Standortkontinuität und Nutzungswechsel 

Fabriken im eigentlichen Sinn brachte erst die Mechanisierung des 19. Jahrhunderts hervor. Freilich war die Industrialisierung mit einer Konzentration der Fertigung an zentralen Standorten verbunden, die ländlichen Gewerberegionen gerieten ins Hintertreffen. Das lokale Handwerk war der überregionalen Konkurrenz nicht gewachsen und büßte seine Branchenvielfalt rasch ein. Einen regelrechten Kahlschlag der gewerblichen Aktivität zeitigte die Industrialisierung im Mühlviertel und im Böhmerwald. Erst jetzt bekamen diese Regionen einen rein bäuerlichen Stempel aufgedrückt. Im Oberen Waldviertel und im südöstlichen Böhmen hingegen bewirkte der Verlust gewerblicher Vielfalt die Herausbildung einer industriellen Monostruktur. Die Initiative für die Fabriksgründung ging von Unternehmen aus den angrenzenden Zentralräumen aus, die die Fertigung aufgrund der niedrigeren Lohn- und Grundstückskosten aufs Land verlegten. Die Industrialisierung blieb daher auf Branchen beschränkt, die durch hohe Arbeitsintensität – wie die Textilindustrie – oder die Verfügbarkeit lokaler Rohstoffe – wie Glas, Stein oder Grafit – gekennzeichnet waren. (...)

 

aus: Andrea Komlosy: Waldviertel, Mühlviertel, Südböhmen - Landschaft im Transformationsprozess - aus dem Band 24, Denkmalpflege in Niederösterreich, erschienen im Jahr 2000. 

 

Fotos von unserer Reise Ende Jänner 2022 nach Weitra und die umliegenden Dörfer: